Rezension: Hybrides Lernen – Zur Theorie und Praxis von Präsenz- und Distanzlernen

Wer sich mit dem Lernen und Lehren in einer digitalen Welt auseinandersetzt, weiß längst, welche gravierenden Auswirkungen die Digitalität auf das Lernen hat. Allen anderen wurde dies spätestens in der Corona-Pandemie bewusst, die wie ein Brennglas auf die deutsche Bildungslandschaft wirkt. Doch wie gehen wir mit dieser Entwicklung um und welche Schlüssel können Lehrer:innen daraus ziehen? Antworten finden sich in einem neuen Buch, welches am 10. Februar 2021 erschienen ist.

Im Frühjahr 2020 entstanden im Auftrag des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen sechs didaktische Hinweise zum Distanzlernen. Verantwortlich dafür waren Wanda Klee, Philippe Wampfler und Axel Krommer- die Herausgeber:innen des neuen Buches. Mit den Erfahrungen der letzten Monate und mit verschiedenen praktischen Umsetzungen in der Schule zwischen Präsenz-, Hybrid- und Distanzlernen ist nun dieses Buch entstanden: Hybrides Lernen – Zur Theorie und Praxis von Präsenz- und Distanzlernen.

Und es wurde sehnsüchtig von Lehrer:innen, Lernenden und Dozierenden erwartet; so sehr, dass die erste Auflage bereits am 23. Februar 2021 – nicht einmal zwei Wochen nach dem Erscheinungsdatum- vergriffen war. Keine Sorge: Eine zweite Auflage ist verfügbar. Was macht dieses Werk nun so interessant? Denn die Begeisterung, die der schnelle Ausverkauf der ersten Auflage nahelegt, wird vom Autor dieser Rezension geteilt.

Zu Beginn zeigen Krommer und Wampfler auf, was Sie unter Lernen und Lehren in einer Kultur der Digitalität verstehen (vgl. dazu Felix Stalder: Kultur der Digitalität). Sie machen auf den stattgefundenen Leitmedienwechsel in unserer Gesellschaft aufmerksam und zeigen, dass die Fragen nach Tools, Apps oder dem Mehrwert (digitaler Medien) wenig zielführend ist. Stattdessen stehende die Lernenden im Zentrum der Überlegung und wie wir Lernen so gestalten können, dass Wissensaneignung (nicht -vermittlung) und Kompetenzentwicklung gefördert und gefordert werden können. Damit diese theoretischen Überlegungen in didaktische Settings umgesetzt werden können, bedienen sich die Autoren einer Analogie: Die didaktischen Schieberegler aufbauend auf sechs Prinzipien:

  • So viel Empathie und Beziehungsarbeit wie möglich, so viele Tools und Apps wie nötig.
  • So viel Vertrauen und Freiheit wie möglich, so viel Kontrolle und Struktur wie nötig
  • So viel einfache Technik wie möglich, so viel neue Technik wie nötig
  • So viel asynchrone Kommunikation wie möglich, so viel synchrone wie nötig.
  • So viel offene Projektarbeit wie möglich, so viele kleinschrittige Übungen wie nötig.
  • So viel Peer-Feedback wie möglich, so viel Feedback von Lehrenden wie nötig

Diese Antinomien lassen sich – mit einer Ausnahme – als Schieberegler visualisieren.

 

Je nach Situation (z.B. ob im Präsenz- oder Distanzlernen) und ausgerichtet auf die Lernenden können die Schiebregler zur Planung und Gestaltung der Lernsettings unterschiedlich gesetzt werden. Die oben genannten Prinzipien laden dazu ein, sich immer wieder kritisch mit der eignen didaktischen Gestaltung auseinanderzusetzen und diese aktiv zu hinterfragen.

Krommer und Wampfler beschrieben die Idee der didaktischen Schieberegler kurz und knackig. Dennoch steckt in ihnen viel Potential Lernen und Unterricht ganz neu zu denken. Denen, die sich im Vorfeld intensiv mit dem Lernen in einer digitalen Welt auseinandergesetzt haben, bieten die Schiebregler Struktur für die eigenen didaktischen Überlegungen. Für viele Lehrer:innen, Eltern und Politker:innen beinhaltet sie wohl viel Konfliktpotential, werden durch die Prinzipien doch festverankerten Grundsätzen ins Wanken gebracht. Diesen frischen Wind braucht die Diskussion über die Digitalisierung der Schule, geht es doch viel zu oft darum, den Status Quo zu erhalten oder einfach „nur“ Infrastruktur, Geräte und Apps anzuschaffen. Dass das Werk dazu einlädt, sich mit einem neuen Lernen in einer digitalen Welt auseinanderzusetzen und alt bewährtes zu hinterfragen und, dass es diesen neuen Überlegungen eine flexible Struktur gibt, wäre schon Grund genug es als klare Leseempfehlung weiterzugeben. Die Herausgeber:innen gehen aber einen wichtigen Schritt weiter.

Der Großteil des Werkes besteht nämlich nicht aus theoretischen Überlegungen; stattdessen kommen Lehrer:innen und Praktiker:innen aus allen Phasen der Lehrerbildung sowie aus nahezu allen Schulformen zu Wort, die berichten, wie sie theoretischen Überlegungen praktisch umgesetzt haben. Die Berichte sind dabei nicht als Anleitung, sondern als Inspirationsquelle geschrieben. So funktioniert eine echte Verzahnung von Theorie und Praxis, die der Buchtitel bereits angedeutet hat.

Im dritten Teil wird dann reflektiert, wie Theorie und Praxisberichte dazu beitragen können, Lernen, Schule und Unterricht neu gestalten zu können. Bei allem Lob – und dies merken die Autor:innen auch selbst an – zeigen die Erfahrungen aus dem Herbst und Winter 2020/21, dass politische Entscheidungsträger:innen großen Nachholbedarf haben. Damit Lernen in der Kultur der Digitalität möglich wird, müssen die vorhanden Strukturen verändert werden. Schulleiter:innen, Lehrer:innen und Schüler:innen brauchen viel mehr Freiräume, um neues Lernen gestalten zu können. Damit sei dieses Buch auch allen in Schul- und Bildungsministerien, in kommunalen Schulverwaltungen und politischen Gremien ans Herz gelegt.

Es ließen sich viele weitere lobende Wort zu diesem Buch finden. Ich empfehle, diese selber beim Lesen zu entdecken. Zum Abschluss möchte noch einen kurzen Blick auf die Lehrer:innenbildung werfen. In Lehramtsstudium stellt sich immer wieder die Frage, wie wir das Digitale thematisch und curricular einbinden können. Vor allem der Theorieteil eignet sich hervorragend, um in Seminare und Vorlesungen eingesetzt zu werden. Die Studierenden können in kurzer Zeit einen ersten Einblick zum Lernen in einer Kultur der Digitalität erhalten, sodass ein erster Überblick sowie eine weitere, vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema möglich ist.

Fazit: Große Leseempfehlung.

„Hybrides Lernen – Zur Theorie und Praxis von Präsenz- und Distanzlernen“, erschienen am 10.02.2021 im Beltz-Verlag (ISBN: 978-3-407-63223-4, Preis: 29,95€.

Zum Rezensenten: Matthias Kostrzewa ist Digitalisierungsbeauftragter für die Lehrerbildung an der Ruhr-Universität Bochum. https://matthias-kostrzewa.de, Twitter: @matkost04.

Offenlegung: Für dieses Rezension wurde ein kostenloses Belegexemplar bereitgestellt.

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